Aktualisierte Reizdarm-Leitlinie – Therapieoptionen gibt es viele!

Die Diagnose- und Behandlungsleitlinien zum Reizdarmsyndrom (RDS) haben sich 2021 geändert. Sie richten sich in erster Linie an Ärztinnen und Ärzte und alle Berufsgruppen, die sich mit RDS-Betroffenen befassen. Was neu ist und was das für RDS-Betroffene bedeutet, erläutert die Mit-Autorin der Leitlinie Privatdozentin Dr. Miriam Goebel-Stengel aus Rottweil im Interview.

Frau Dr. Goebel-Stengel, ab wann hat jemand definitiv einen Reizdarm?

Die Leitlinie gibt Ärztinnen und Ärzten hierfür konkrete Diagnosekriterien vor. Bauchschmerzen und Stuhlunregelmäßigkeiten müssen für mindestens drei Monate bestehen und die Lebensqualität muss relevant beeinträchtigt sein. Manche RDSPatient*innen haben übrigens keine Stuhlunregelmäßigkeiten, sondern eher Schmerzen und Blähungen. Das RDS hat viele verschiedene Ursachen, die bei jedem Betroffenen anders ausgeprägt sein können. Ein Erklärungsansatz ist das biopsychosoziale Modell, welches biologische, psychische und soziale Ursachen umfasst. Biologisch spielen genetische Komponenten oder die Bakterienflora im Darm eine Rolle. Manche Menschen haben auch ein gesteigertes Schmerzempfinden. Oder es sind mehr Entzündungszellen als gewöhnlich im Darm, was wir aber mit Routinemethoden nicht messen können. Aus psychologischer und sozialer Sicht spielt unter Umständen eine Rolle, wie man als Kind groß geworden ist oder ob man mit Begleiterkrankungen umgehen muss. Traumatische Lebensereignisse wie schwere Unfälle oder erlebte Gewalt können auch ein Auslöser sein. Angehörige von RDS-Betroffenen oder auch Ehepartner*innen erkranken unter Umständen ebenfalls.

Der Stellenwert der Ernährungsempfehlungen scheint sich in der aktualisierten RDS-Leitlinie deutlich geändert zu haben.

Wir haben in den vergangenen Jahren viel über FODMAPs (fermentierbare Oligo-, Di-, Monosaccharide und Polyole) gelernt. Das ist eine Gruppe von Kohlenhydraten, von denen bekannt ist, dass sie im Darm Beschwerden auslösen können. Und zwar deshalb, weil sie nicht so gut wie andere Stoffe aufgenommen werden können oder weil sie leicht von bestimmten Darmbakterien zersetzt werden und dadurch zu Gasbildung, Blähungen und Durchfall führen. Dazu gehören zum Beispiel Fruchtzucker (Fruktose), Milchzucker (Laktose) sowie langkettige Alkoholderivate, die häufig als Zusatzstoffe in vielen Nahrungsmitteln enthalten sind. Außerdem gehören verschiedene Obstsorten, Milchprodukte, Erbsen, Bohnen, Linsen, Artischocken, Zwiebeln, Knoblauch, Pilze oder zuckerfreie Süßigkeiten, die mit Polyolen gesüßt werden, dazu. Manchen Menschen macht der Genuss solcher Nahrungsmittel nichts aus, andere leiden unter ausgewählten Nahrungsinhalten ganz besonders schwer. Deshalb ist in der Leitlinie beschrieben, wie Betroffene zum Beispiel mit Hilfe von Ernährungsberater*innen solche Unverträglichkeiten ermitteln und eine Zeitlang bestimmte Nahrungsmittel meiden können, Stichwort „low-FODMAP-Diät“. Es geht dabei nicht um lebenslangen Verzicht, sondern darum, die Aufnahme so weit zu reduzieren, dass keine Beschwerden mehr entstehen. Radikale Diäten bergen die Gefahr von Ernährungsmangelzuständen.

Wie ermittelt man die individuellen Unverträglichkeiten?

Die Betroffenen führen für etwa zwei Wochen ein detailliertes Ernährungs- und Symptomtagebuch. Da offenbaren sich dann die Zusammenhänge. In der Ernährungsberatung wird nicht nur auf die Kohlenhydrate eingegangen, sondern es wird auch geschaut, ob die Gesamtzusammensetzung der Ernährung passt, etwa was Eiweiß- und Fettaufnahme angeht.

DIE Reizdarm-Diät gibt es also nicht?

Ein paar allgemeine Hinweise sollte jeder befolgen: Sich Zeit nehmen zum Essen, ausreichend Trinken, eine ausgewogene Kost bevorzugen. Blähende und stark gewürzte Speisen sollten gemieden werden. Was wir nicht wollen, sind jahrelange einseitige Diäten, die letztlich nichts bringen. Das heißt auch, man sollte sich mindestens vier Wochen, besser zwei bis drei Monate, Zeit nehmen, um Dinge auszuprobieren. Wenn ich komplett auf Milchzucker verzichte und meine Beschwerden sind dieselben wie vorher, kann ich auch wieder Milchzucker zu mir nehmen, denn dann haben die Beschwerden wohl eine andere Ursache. Das Gleiche gilt für Medikamente: Was nach sechs bis zwölf Wochen keinen Effekt hat, sollte man wieder absetzen.

Was halten Sie von den kommerziellen Tests auf Nahrungsmittel-Unverträglichkeiten, die vielfach angeboten werden?

Davon raten wir in der Leitlinie ausdrücklich ab.

Andere Tests beschäftigen sich mit der gestörten Flora an Darmmikroben – bringt das etwas?

Derzeit bieten Labore an, für privat Zahlende Stuhlproben zu analysieren. Das geschieht auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Es gibt keine allgemein anerkannte Analysemethode. Deshalb sind die Ergebnisse von vornherein sehr unterschiedlich. Vor allem aber wissen wir heute noch gar nicht, wie genau ein gesundes Darmmikrobiom aussehen müsste. Außerdem unterscheidet sich auch bei Darmgesunden das Mikrobiom von Mensch zu Mensch. Da wir keine Normwerte haben, können wir aus diesen Analysen auch keine seriösen Therapien ableiten. Aus diesem Grunde raten wir davon ab, solche Tests vornehmen zu lassen.

In der Leitlinie werden symptomunabhängige Maßnahmen, die jede oder jeder versuchen kann, von symptomorientierten Maßnahmen unterschieden, etwa Medikamenten. Gibt es in puncto Medikamenten Neuerungen?

In Deutschland kaum. Es gibt Wirkstoffe, die zum Beispiel auf dem US-amerikanischen Markt verfügbar sind, die wir aber nicht problemlos in Deutschland auf Kosten der gesetzlichen Krankenkasse verordnen können. In der Leitlinie werden verschiedene Medikamente aufgeführt, die nicht ausdrücklich für die Behandlung bei RDS zugelassen sind, von denen wir aber wissen, dass sie in ausgewählten Einzelfällen helfen können. Die müssen dann zum Teil selbst bezahlt werden.

Wie sieht es mit Empfehlungen zur Phytotherapieund komplementären Verfahren aus?

Ich rate eigentlich jedem meiner Patient*innen, einmal Flohsamenschalen auszuprobieren, die sowohl bei Durchfall als auch bei Verstopfung stuhlregulierend wirken. Pfefferminzöl und Kümmelöl bringen oft gute Effekte – stets zusätzlich zu den bereits besprochenen Maßnahmen. Diese Empfehlungen finden sich auch in der RDS-Leitlinie. Entspannungsverfahren wie die progressive Muskelentspannung nach Jacobsen, Darmhypnose oder Yoga sind ebenfalls empfehlenswert. Leider gibt es kaum Anbieter für Hypnotherapien. Andererseits lassen sich einfache Entspannungsverfahren heute schon mit Apps fürs Smartphone oder mit käuflich zu erwerbenden CDs umsetzen. Dabei geht es darum, sich Zeit für sich selbst zu nehmen. Eine sportliche Betätigung, die Spaß macht, bringt immer etwas – und zwar nicht nur für die Darmgesundheit.

Was sagen die Leitlinienautor*innen zu Pro- und Präbiotika?

Sie zielen darauf ab, die Bakterien im Darm zu beeinflussen. Zu Probiotika findet sich ein großes Kapitel in der Leitlinie. Es handelt sich um lebende Organismen, die man über den Mund aufnimmt und von denen wir uns einen gesundheitlichen Nutzen erhoffen. Es gibt viele probiotische Produkte zu kaufen, viele davon können RDS-Symptome lindern, vor allem Blähungen, Schmerzen und Durchfall. Präbiotika sind im Dünndarm unverdauliche Kohlenhydrate. Sie dienen den Bakterien im Dickdarm als Nahrung und werden dort von ihnen zersetzt. Es wird also versucht, mit Präbiotika, die „richtigen“ Bakterien zu füttern, damit die sich gut vermehren können. Welches im Einzelfall die „guten Bakterien“ sind, wissen wir allerdings nicht so genau. Für Menschen mit RDS empfehlen wir keine Präbiotika, weil es dazu keine ausreichenden Studiendaten gibt. Das heißt natürlich nicht, dass man es nicht probieren kann.

Die Leitlinie geht umfangreicher als früher auch auf psychologische Aspekte ein.

Wir wissen aus Studien, dass Psychotherapien bei Menschen mit RDS sehr gut wirksam sind. Wenn drei Patient*innen mit RDS eine Psychotherapie erhalten, geht es danach einem deutlich besser. Das ist ein sehr gutes Verhältnis! Für viele Medikamente bei anderen Erkrankungen liegt das Verhältnis oft bei 10:1. Deshalb sagen die Leitlinienautor*innen: Allen RDS-Betroffenen sollte eine Psychotherapie angeboten werden, also nicht nur jenen, die zusätzlich Depressionen oder eine Angststörung haben, was bei RDS durchaus häufig ist. Psychotherapie wirkt sich auch bei nicht psychisch Kranken günstig auf die Bauchsymptome aus.

Was bedeuten diese neuen Therapieleitlinien konkret für die Betroffenen?

Die nun aktualisierte Leitlinie ist gemacht für Ärztinnen und Ärzte und alle beteiligten Berufsgruppen, die mit Patient*innen mit RDS befasst sind. Ihnen wird damit ein Hilfsmittel an die Hand gegeben, das auf die verschiedenen Behandlungsoptionen hinweist. Davon gibt es nämlich viele – was gar nicht so bekannt ist. Diese Botschaft muss sich noch verbreiten, sowohl in der Bevölkerung, bei Betroffenen und bei Behandelnden.

Und wie kommen RDS-Betroffene an aktuelle und seriöse Antworten auf ihre Probleme?

Seriöse Antworten gibt es zum Beispiel bei MAGDA, wo es ärztlich mitbetreute Foren gibt. Die dort verbreiteten Informationen sind auf jeden Fall valide und gesichert.

Wird das RDS irgendwann heilbar sein?

Das hoffe ich! Im Übrigen werden heute schon viele Menschen geheilt. Das postinfektiöse Reizdarmsyndrom kann nach gewisser Zeit wieder verschwinden. Wir erleben immer wieder Menschen mit RDS, die nach Jahren oder Monaten tatsächlich keine Beschwerden mehr haben. Die Wissenschaft bemüht sich, die krankheitsverursachenden Hintergründe weiter zu entschlüsseln. Den einen Schalter, der umgelegt werden muss oder die eine Wunderpille wird es jedoch nicht geben. Denn wie der Begriff „Syndrom“ schon sagt: Hinter dem Reizdarm-Syndrom verbergen sich wahrscheinlich verschiedene Erkrankungen mit vielfältigen Ursachen.

Frau Dr. Goebel-Stengel, vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Dr. Thomas Meißner, Erfurt

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